Ideal: "Berlin" 16/16

Aus openPunk
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Die druckbare Version wird nicht mehr unterstützt und kann Darstellungsfehler aufweisen. Bitte aktualisiere deine Browser-Lesezeichen und verwende stattdessen die Standard-Druckfunktion des Browsers.

Das "Tacheles" ist auch der erste autonome Komplex, den es ein paar Meter weiter auf einer Hochglanz-Postkarte zu kaufen gibt, was ich mit meiner beschränkten Lamettarübe schlicht sensationell finde. Ich ging davon aus, daß vermutlich genau jetzt der Zeitpunkt für eine gute, original Berliner Currywurst gekommen war, aber sicher war ich mir nicht, als ich den Imbißwirt beim Zubereiten beobachtete. Statt einfach nur eine von den schönen, gebräunten Würsten vom Grill zu nehmen, sie in Stücke zu schneiden und mit einer möglichst schmackhaften Tunke zu bedecken, ließ der Mann die Würste Würste sein und schmiß irgendein längliches Teil in seine Friteuse. Ich hielt es für gut möglich, daß er mich ostwestundsprachbedingt gar nicht richtig verstanden hatte, wollte ihn aber auch beim Hineinstarren in das brutzelnde Öl nicht weiter stören. Nach fünf Minuten war das Stück dann gar. Er nahm es heraus, schnitt es in mundgerechte Happen, und gab reichte mir den undefinierbaren Brutzelpimmel, auf daß ich kurz vor meiner Abreise noch schön kotzen möge. What´s so funny ´bout peace love and Falafel? Dann kam der Plattenladen. Als ich schon gar nicht mehr damit rechnete, lag er plötzlich vor mir. Über zwei Etagen Second-Hand-Ware, das Personal mit schönen, schulterlangen Haaren, die Tasche an der Theke abzugeben, perfekt. Mit meinem restlichen paar Kröten erstand ich noch vier scharfe Ostrock-Platten für vierzig harte West-Euros und machte mich so langsam auf den Weg zum Hauptbahnhof. Da ich schon wieder pissen mußte, landete ich vorher noch in einer Kneipe namens "Wahlkreis". Im Nachhinein bin ich dafür auch sehr dankbar, denn sowas hab ich auch noch nicht gesehen. Strenggenommen war ich der einzige Gast. Die Bedienung, eine junge Frau, saß vor einem Laptop und ließ sich von einem etwa gleichaltrigen Typen die Welt erklären. Ich sah sofort, daß der Lümmel nur auf´s Ficken aus war, aber Madame schien unbeeindruckt und brachte mir nach nur fünf Minuten den Capuccino. Wo war ich da nur gelandet? An den Wänden Regale, darin Ausstellungsstücke von verschiedenen politischen Parteien, hauptsächlich CDU, FDP und SPD und mittendrin, für´s bloße Auge unsichtbar, eine Maxi-Single der Gruppe Boney M mit dem Titel "Obama Obama". Vielleicht eine Kneipe für politisch Unentschlossene? Ich gab dem Girl zehn Cent Trinkgeld und machte mich auf den Weg zum Zug. Der war früher immer vom Bahnhof Zoo abgefahren, da war noch alles easy und echt Berlin. Ob die Herrschaften sich mit dem neuen Hauptbahnhof architektonisch wirklich einen Gefallen getan haben, weiß ich nicht. Vor allem der Ausblick auf die Neubauten stimmte nachdenklich. Berlin muß verdammt nochmal aufpassen, daß der erste und letzte Eindruck nicht an Düsseldorf erinnert, sonst fahren die Leute womöglich beim nächsten mal direkt nach Hannover. Pünktlich um zehn vor sieben rollte mein Intercity ein. Ich suchte meinen Platz, trank einen Schluck Kakao und unterschätzte meine Wirkung auf die übrigen Passagiere, die zum Teil recht merkwürdig glotzten, nur weil ich in einem KISS-Fan-Lexikon blätterte. Als ich vier Stunden später wieder Duisburger Boden betrat, wußte ich einiges über Paul Stanley und Bläsersätzen auf dem offenbar unterschätzten "The Elder"-Album. Reisen bildet eben..

Mehr vom Tom Tonk gibt es auf hier OpenPunk oder auf seiner Seite: http://www.rockraketetonk.de