Sportliche Chaostage

Aus openPunk
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Am ersten August-Wochenende waren für das Jahr 2000 wieder einmal Chaostage angesagt. Die liebgewonnene Punkrock-Tradition stand in diesem Jahr unter stark sportlichem Eindruck, wobei die Polizei die Spiele mit einem eindeutigen Punktvorteil für sich entscheiden konnten. Dazu gleich mehr. Hilfreich bei diesem Erfolg waren allerdings auch die schwachen Leistungen der Punk-Mannschaft im Vorfeld der Veranstaltung. Ebenso entscheidend waren die Arbeiten der Schlachtenbummler und der Presse, wobei die Dritte Halbzeit relativ ordentlich ausging. Doch jetzt erst einmal der Spielverlauf im einzelnen – Klaus N. Frick berichtet gewissermaßen direkt vom Spielfeld. (Ausführlicher Bericht in der nächsten ENPUNKT-Ausgabe. Ende der Werbeeinblendung!)

Polizei steigt mit 0:1 ein – schwache Vorarbeit der Punk-Mannschaft

Machen wir uns nichts vor: Die Punk-Szene ist einfach schlapp geworden. Natürlich war der Großteil der Szene schon immer schlapp, aber im Jahr 2000 hat es sich noch deutlicher gezeigt. Es ist nun mal viel einfacher, zu Hause zu bleiben und Platten zu hören, auf die Konzerte angesagter Bands zu gehen und ein lockeres Party-Outfit zu pflegen, als den Besuch der Chaostage zu riskieren. Noch nie war es so einfach, auf die Chaostage zu fahren. Einfach ein bißchen tarnen, und es gab keine Probleme. Bei den Polizeikontrollen wurden »normal aussehende« Menschen nicht behelligt, und sogar die derbsten Irokesenpunks kamen ohne größere Probleme nach Hannover hinein. Wer sich einigermaßen locker durch die Stadt bewegte, bekam zwar Platzverweise oder wurde ständig kontrolliert, aber es passierte nicht unbedingt etwas; den »getarnten« Punks schon gar nicht.

Trotzdem waren höchstens 800 bis 1000 Punks und Bundesgenossen in Hannover. Mehr nicht. Und diese verteilten sich auf zahlreiche Plätze und Straßen, so daß nie das Gefühl aufkam, man sei richtig viel. Die Laschheit der Punk-Szene im Jahr 2000 wurde so sehr erfolgreich demonstriert. Punk ist zu einem Bestandteil der »Subkultur« geworden, ebenso austauschbar und belanglos wie Reggae, HipHop oder Techno, ebenso uninteressant und ungefährlich. Wer allen Ernstes glaubt, die Punk-Szene habe hierzulande noch so etwas wie eine subversive Kraft, sieht sich nach diesem Wochenende getäuscht. Schlappes Verhalten und angepaßtes Denken herrschen vor. Man will seine bürgerliche Karriere nicht kaputtmachen lassen, nur weil sich »irgendwelche Assel-Punker« vergessen. Konzentriert sich Punkrock aber irgendwann nur noch darauf, eher durchschnittlichen Rock’n’Roll zu hören oder alten Zeiten nachzutrauern, sollte man die Sache komplett beerdigen. Ende der Predigt. Der erste Punktvorteil der Polizei entstand also klar dadurch, daß die Punk-Szene nicht punkten konnte. Wie auch? Es waren zu wenig, um der Taktik der Polizei ein entscheidendes Gewicht entgegenzusetzen. Bereits vor Beginn der Chaostage hatte die Polizei so einen wichtigen Punkt gewonnen ...

Polizei erhöht auf 0:2 – konsequente Zusammenarbeit mit der Presse

In einem zweiten Punkt war die Polizei mehr als erfolgreich: Die Presse schwieg die ganze Sache einfach tot. »Schnauze halten!« – das war die Devise. In den Medien stand im Vorfeld so gut wie nichts über die Chaostage. Es wurde berechtigt, daß es so etwas schon früher gegeben hatte, mehr nicht. Keine Panikmache, keine Warnungen vor den bösen Punkern, nichts. Schlimmer hätte man den Punks nicht schaden können, denn nur ein entsprechendes Mediengetrommel treibt genügend abenteuerlustige Menschen nach Hannover und auf die Chaostage. Diesmal ließen sich die Medien nicht verarschen und konstruierten aus zehn herumstehenden Punks einen »asozialen Mob«. Diesmal spielten die Medien herunter, wiegelten ab, taten alles, um dem Image der Expo 2000 nicht zu schaden. Ein Super-Zusammenspiel zwischen Polizei und Medien, das den Vorsprung der Polizei stark ausbaute.

Punks rappeln sich auf – trotz Anreise noch keinen Punkt erzielt

Die durch die ersten Punktgewinne der Polizei stark dezimierte Gästemannschaft trudelte zwar in Hannover ein und verteilte sich großmaßstäblich über die Stadt, konnte aber keine Punkte erzielen. Überall in der Nordstadt, in Linden, in der City und in anderen Bezirken Hannovers waren kleine Gruppen von Punks unterwegs, mal rennend und auf der Flucht, mal gemütlich irgendwo sitzend, gehend, stehend oder liegend. Aber Punktvorteile konnten sich die Punks dadurch nicht erkämpfen.

Polizei steigert auf 0:3 – ordentliches Mannschaftsspiel vor Ort

Die Polizei war fitter. Sie blieb höflich. Punks wurden höflich kontrolliert, sie bekamen höflich Platzverweise, sie wurden sogar beim Verhaften gesiezt. Am Donnerstag mittag, 3. August, wurde eine Freibierfete im Stadtteil Linden mit Dutzenden von Polizeifahrzeugen aufgelöst – auf jeden Punk kamen schätzungsweise zehn Beamte. Und am Freitag mittag wurden rund 150 Punks zum Bahnhof geleitet und sehr höflich in Züge gesetzt, mit denen sie in Obhut des Bundesgrenzschutzes in ihre Heimatstädte gefahren wurden.

Sehr ordentlich, sehr gut. Niemand hatte Grund, sich über zu starke Willkürakte der Polizei aufzuregen. Der Polizeieinsatz, der auf starkes »Pressing« setzte und den Punk-Gegner durch »Einengung der Räume« nicht zum Spiel kommen ließ, verlief äußerst erfolgreich. Frustration kehrte im Lager der Gästemannschaft ein.

Punks holen auf 1:3 auf – cooler Riot in der Nacht

Frust kann auch umkippen. In der Nacht vom Freitag auf Samstag wurde bei der Lutherkirche schwer gefeiert, die Band JUGENDRENTE spielte mit Wandergitarren auf, und danach kam es zu einem eher ungezügelten Gewaltausbruch. Die Polizei griff an, die Punks verpißten sich in alle Richtungen, es rappelte überall in der Nordstadt; Container brannten, Müll flog über die Straße, Scheiben klirrten, Baugerüste wurden umgerissen und so weiter. Keine richtige Gewaltaktion für die Freunde der dritten Halbzeit, aber eine rasche sportliche Leistung, die zum ersten Punkt für die Gäste führte. Polizei und Punks tändeln – trotz Innenstadtdetails Vorteile für die Polizei

Der Samstag verlief anfangs verhalten. Man holte Atem. Es gab eine eher peinliche Antifa-Demo in der Innenstadt, die von vielen Punks dazu genutzt wurde, sich in der Innenstadt aufzuhalten. Von einer Verhinderung der Chaostage konnte angesichts vieler kleiner Punk-Trupps in der Fußgängerzone keine Rede mehr sein. Mittags und abends fuhr die Polizei ihre übliche Schiene aus Vertreibung, Kontrolle und Platzverweis, setzte auch wieder viele Punks in Züge und erarbeitete sich so erneut strategische Vorteile.

Eine eigentlich friedliche Party auf dem Sprengelgelände wurde mit Hilfe von Wasserwerfern und Tränengas gestürmt, eine eher schwache Barrikade im Handumdrehen überrollt. Die durch die Bank mit Handys ausgerüsteten Punks informierten sich darüber, vereinbarten neue Treffpunkte, wichen, sofern sie nicht verhaftet wurden, den Beamten aus und verteilten sich erneut über die Stadt. Keine der beiden Seiten konnte in dieser Phase des Spiels einen entscheidenden Vorteil erzwingen.

Punks holen auf 2:3 auf – Haupfkampflinie Universität

Im Bereich der Universität trafen sich einige Dutzend Punks, Bundesgenossen und abenteuerlustige Jugendliche. Dort gab es nämlich in einem Laden namens »Labor« eine HipHop-Party, und zwischen den teilweise an Peinlichkeit nicht zu überbietenden HipHoppern konnte man sich gut tarnen. Die Polizei wurde mit Schmährufen bedacht (»Alle Bullen sind schwul«), bekam gelegentlich die eine oder andere Flasche ab und versuchte einen halbgaren Angriff, bei dem es einen sportlichen Stein- und Flaschenhagel gab.

Das Ende am »Labor« sah so aus, daß völlig verstrahlte Punks und Bundesgenossen (darunter der Erzähler dieses Berichtes sowie der Herausgeber eines ehemaligen Fanzines namens ZAP) eine schauderhaft laute und vor allem schauderhaft rückverdummte Saufparty zelebrierten, ohne daß die bis an die Zähne bewaffneten BGS-Schergen irgend etwas taten.

Polizei erhöht auf 2:4 – Totschweigen und Abmildern gelingt

Leider war es das dann. Den ganzen Sonntag über steckte Hannover im eisernen Würgegriff der Polizei. Den Punks blieb nichts anderes übrig, als die Stadt zu verlassen. Und die Medien spielten mit: Zerbeulte Autos, brennende Mülleimer und eingeschlagene Fensterscheiben außerhalb der heiklen Zone Nordstadt wurden durch die Bank »unbekannten Tätern« zugeschrieben. Wir erinnern uns an 1994 und 1995; damals wurde den bösen Punkern jede harmlose Furz im Umkreis von fünfzig Kilometern angelastet. Diesmal war es genau umgekehrt – man konnte wirklich glauben, daß es keine Chaostage gegeben hatte. Bürgerliche Presse, alternative Presse und das Fernsehen spielten mit. Ausgerechnet die Internet-Zeitschrift »telepolis« scherte aus der festen Front der Presseabsprachen aus und brachte einen kritischen Bericht. Trotzdem: Die Polizei hatte sich noch einen letzten Siegespunkt erspielt.

Spielende bei 2:4 – Punk-Veteranen trotzdem guter Dinge

Keine Frage: Die Polizei hat diese Chaostage für sich entschieden. Sie hatte das Spielgeschehen dominiert und den Punks nur wenig Möglichkeiten gegeben, sich selbst ins Spiel zu bringen. Daß unsereins sich trotzdem ohne Ende amüsierte, steht auf einem anderen Blatt Papier. Gut zweihundert getarnte Punks feierten nach übereinstimmenden Angaben mit die beste Party ihres Lebens, in dem sie Bullen, Bürger und Medien verarschten. Und das ist ja nicht das schlechteste ...

Klaus N. Frick